• 16.11.2022 – Tierarztvorbehalt für die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Humanhomöopathika bei Tieren ist verfassungswidrig

    LEGISLATIVE | Steuer & Recht | Das BVerfG entschied, dass § 50 Abs. 2 Tierarzneimittelgesetz gegen das Grundgesetz verstößt und nichtig ist, soweit die Vorschrift die Anwendung ...

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Tierarztvorbehalt für die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Humanhomöopathika bei Tieren ist verfassungswidrig

 

Mit am 16.11.2022 veröffentlichten Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 50 Abs. 2 des Gesetzes über den Verkehr mit Tierarzneimitteln und zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften betreffend Tierarzneimittel vom 27. September 2021 (Tierarzneimittelgesetz – TAMG) gegen Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstößt und nichtig ist, soweit die Vorschrift die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger und zugleich registrierter homöopathischer Humanarzneimittel bei Tieren, die nicht der Gewinnung von Lebensmitteln dienen, unter einen Tierarztvorbehalt stellt.

Die Beschwerdeführerinnen sind als Tierheilpraktikerinnen beziehungsweise Tierhomöopathin tätig und behandeln Tiere mit nicht verschreibungspflichtigen, hochpotenzierten Humanhomöopathika. Nach dem mit Wirkung zum 28. Januar 2022 neu eingeführten § 50 Abs. 2 TAMG dürfen sie solche Humanhomöopathika bei Tieren nur noch dann anwenden, wenn sie zuvor von einer Tierärztin oder einem Tierarzt verschrieben oder abgegeben worden sind.

Dieser in § 50 Abs. 2 TAMG angeordnete Tierarztvorbehalt verletzt die Beschwerdeführerinnen in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und – im Falle einer der Beschwerdeführerinnen, die zugleich Tierhalterin ist – in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), soweit die Vorschrift einen Tierarztvorbehalt auch für die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Humanhomöopathika vorsieht. Der damit verbundene Grundrechtseingriff ist nicht verhältnismäßig. Der Gesetzgeber hat vor dem Hintergrund, dass die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung von Belangen des Tierschutzes und einer Schädigung der Gesundheit von Tier und Mensch als gering einzuschätzen ist und durch die Einführung einer Pflicht zum Nachweis theoretischer Kenntnisse im Bereich der Tierheilkunde weiter gemindert werden kann, keinen verfassungsrechtlich angemessenen Ausgleich vorgenommen.

Sachverhalt:

Nach der bis zum 27. Januar 2022 geltenden Rechtslage war Personen, die nicht Tierärztinnen oder Tierärzte sind, die Anwendung jeglicher nicht verschreibungspflichtiger Humanarzneimittel bei Tieren, die nicht der Gewinnung von Lebensmitteln dienen, vorbehaltlos gestattet. Seit dem 28. Januar 2022 stellt § 50 Abs. 2 TAMG dies unter den Vorbehalt, dass die Arzneimittel von einer Tierärztin oder einem Tierarzt verschrieben oder abgegeben worden sind, und dass die Anwendung gemäß einer tierärztlichen Behandlungsanweisung erfolgt. Dieser so genannte Tierarztvorbehalt umfasst daher unter anderem die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger, hochpotenzierter Humanarzneimittel bei Tieren.

Die Beschwerdeführerinnen arbeiten seit vielen Jahren in eigener Praxis als Tierheilpraktikerinnen beziehungsweise Tierhomöopathin. Sie behandeln vor allem Hunde und Katzen, aber auch Pferde und teilweise Kleintiere. Therapeutisch arbeiten sie nahezu ausschließlich klassisch homöopathisch und verwenden dabei hochpotenzierte Humanhomöopathika, die registrierungspflichtig, aber nicht verschreibungspflichtig sind. Eine der Beschwerdeführerinnen hält auch privat Hunde und Pferde, die sie bei Bedarf ebenfalls mit diesen Arzneimitteln behandelt.

Die Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen § 50 Abs. 2 TAMG und rügen eine Verletzung ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG. Als Tierhalterin rügt eine der Beschwerdeführerinnen zudem eine Verletzung ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

A. Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig, soweit die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 (allgemeine Handlungsfreiheit) und Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) rügen.

Das Tierarzneimittelgesetz dient als solches zwar auch der Umsetzung und Durchführung von Rechtsakten der Europäischen Union (vgl. § 1 Abs. 3 TAMG). Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für die Prüfung des § 50 Abs. 2 TAMG im angegriffenen Umfang ist gleichwohl eröffnet, da es sich insoweit nicht um die Umsetzung zwingenden Unionsrechts handelt. Die Regelung setzt weder vollständig vereinheitlichendes Unionsrecht aufgrund eines Umsetzungsauftrags um, noch dient sie der Anpassung an insoweit verbindliches Unionsrecht.

B. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet.

I. § 50 Abs. 2 TAMG greift unverhältnismäßig in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der als Tierheilpraktikerinnen beziehungsweise Tierhomöopathin tätigen Beschwerdeführerinnen ein.

1.Soweit § 50 Abs. 2 TAMG die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Humanhomöopathika bei Tieren unter einen Tierarztvorbehalt stellt, greift die Regelung in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerinnen ein.

2.Dieser Eingriff ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

a) Der für die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Humanhomöopathika bei Tieren angeordnete Tierarztvorbehalt verfolgt allerdings einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck. Die in den Gesetzgebungsmaterialien genannten Zwecke der „Fortführung und Anpassung an die europarechtlichen Vorgaben“ des § 57a AMG a. F. können die angegriffene Regelung zwar für sich genommen nicht tragen. Auch die Arzneimittelsicherheit in Gestalt des Schutzes vor einer Fehlmedikation kann nicht als legitimer Zweck herangezogen werden, denn es bestehen keine hinreichend tragfähigen tatsächlichen Erkenntnisse dazu, dass durch die Anwendung von hochpotenzierten Humanhomöopathika bei Tieren Gefahren für Tier, Mensch oder die Umwelt zu besorgen sind.

Der Gesetzgeber verfolgt mit dem Tierarztvorbehalt aber den legitimen Zweck, die Qualität von Diagnostik und Therapie bei Heilbehandlungen von Tieren zu sichern. Es dient dem Tierschutz und der Gesundheit von Mensch und Tier, wenn Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen durch nicht ärztliche Personen vermieden werden. Zwar lassen die Gesetzesmaterialien ein entsprechendes Anliegen des Gesetzgebers nicht erkennen. Es handelt sich insoweit aber um einen objektiv vernünftigen und sachlichen Zweck, auf den auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu den Verfassungsbeschwerden hinweist.

b) Der für die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Humanhomöopathika angeordnete Tierarztvorbehalt ist zur Erreichung des Gesetzeszwecks im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet und erforderlich. Er ist jedoch nicht verhältnismäßig im engeren Sinne.

aa) Der Eingriff in die freie Berufsausübung hat erhebliches Gewicht. Tierheilpraktiker und Tierhomöopathen, die klassisch homöopathisch arbeiten und daher nahezu ausschließlich hochpotenzierte, nicht verschreibungspflichtige Humanhomöopathika anwenden, sind im Kern ihrer Tätigkeit betroffen. Eine weitere berufliche Tätigkeit ist auf diesem Gebiet ganz weitgehend nicht möglich.

bb) Mit dem Tierschutz sowie der Gesundheit von Tier und Mensch stehen dem Eingriff schützenswerte Belange von erheblichem Gewicht gegenüber. Tiere sollen vor körperlichen Schmerzen, Leiden und Schäden durch Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen durch nicht ärztliche Personen bewahrt werden. Mit Verbesserung des Tierschutzes wird ein besonders wichtiger Gemeinwohlbelang verfolgt, denn die Verfassung selbst verpflichtet den Gesetzgeber durch Art. 20a GG, geeignete Vorschriften mit dem Ziel des Tierschutzes zu erlassen.

cc) Die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung der hier verfolgten Gemeinwohlbelange ist jedoch als nicht sehr hoch einzuschätzen und kann vor allem durch die Einführung einer Pflicht zum Nachweis von Kenntnissen im Bereich der Tierheilkunde weiter gemindert werden.

(1) Das Tierschutzgesetz (TierSchG) und das Tiergesundheitsgesetz (TierGesG) enthalten verschiedene sanktionsbewehrte Verhaltens- und Anzeigepflichten, die jedenfalls in schwerer wiegenden Fällen die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung von Belangen des Tierschutzes und einer Schädigung der Gesundheit von Tier und Mensch durch Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen im Rahmen gewerblich durchgeführter Heilbehandlungen teilweise mindern können.

(2) Die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung der hier geschützten Gemeinwohlbelange schätzt der Gesetzgeber selbst nicht als sehr hoch ein, da er eine Gefährdung im Hinblick auf zahlreiche andere Heilbehandlungen bei Tieren grundsätzlich hinnimmt.

Dass mit einer Heilbehandlung durch Tierheilpraktiker und Tierhomöopathen gewisse Gefahren für den Tierschutz und die Gesundheit von Tier und Mensch einhergehen, weil nicht approbierte Personen nicht die gleiche Gewähr für eine hohe Qualität von Diagnostik und Therapie bieten können wie ein Tierarzt, ist keine Besonderheit der Anwendung von Humanhomöopathika bei Tieren. Dies gilt ebenso zum Beispiel für die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Tierarzneimittel (etwa Tierhomöopathika) oder alternativer Heilmethoden (etwa Pflanzenheilkunde), die vom Gesetzgeber weder im Tierarzneimittelgesetz noch an anderer Stelle unter einen Tierarztvorbehalt gestellt, sondern auch Personen ohne spezifische Ausbildung unter Anwendung unterschiedlichster Therapieansätze vorbehaltlos gestattet werden. Die Gefahr von Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen und das Risiko, dass auf Menschen übertragbare Infektionskrankheiten unerkannt bleiben können oder falsch behandelt werden, nimmt der Gesetzgeber dort hin.

(3) Die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung von Belangen des Tierschutzes sowie einer Schädigung der Gesundheit von Tier und Mensch kann aber vor allem dadurch weiter gemindert werden, dass die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Humanhomöopathika bei Tieren durch nichtärztliche Personen zumindest vom Nachweis solcher Kenntnisse abhängig gemacht werden, die dazu befähigen einzuschätzen, inwieweit die Zuziehung eines Tierarztes oder die Verweisung an einen Tierarzt erforderlich ist.

dd) Vor diesem Hintergrund erscheint der Tierarztvorbehalt für die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Humanhomöopathika zur Sicherung der Qualität von Diagnostik und Therapie im Ergebnis nicht mehr angemessen. Die als nicht sehr groß einzuschätzenden Gefahren können durch die Einführung einer Pflicht zum Nachweis theoretischer Kenntnisse in der Tierheilkunde weiter vermindert werden. Gleichzeitig steht ihnen ein schwerwiegender Eingriff in die Berufsfreiheit gegenüber, denn Tierheilpraktikerinnen und Tierheilpraktikern, deren Tätigkeit sich im Wesentlichen auf Behandlungen im Wege der klassischen Homöopathie beschränkt, bleibt mit Einführung des Tierarztvorbehalts im hier angegriffenem Umfang kaum mehr Raum zur beruflichen Betätigung. Das Maß der Belastung der Grundrechtsträger steht daher nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zu den dem gemeinen Wohl erwachsenden Vorteilen.

II. Der in § 50 Abs. 2 TAMG auch für die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Humanhomöopathika durch Tierhalterinnen und Tierhalter angeordnete Tierarztvorbehalt greift unverhältnismäßig in deren allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) ein.

Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit von Tierhalterinnen und Tierhalter, die – wie eine der Beschwerdeführerinnen – ihre Tiere klassisch homöopathisch behandeln, ist nicht gerechtfertigt. Der Tierarztvorbehalt dient zwar, auch soweit Tierhalterinnen und Tierhalter von ihm betroffen sind, dem legitimen Zweck der Sicherung der Qualität von Diagnostik und Therapie. Er ist ebenso geeignet und erforderlich, diesen Zweck zu erreichen. Die Regelung ist aber ebenfalls nicht mehr verhältnismäßig im engeren Sinne.

Zwar ist das Eingriffsgewicht der Regelung zunächst geringer. Denn Tierhalterinnen und Tierhalter müssen weder eine ihren Lebensunterhalt sichernde Tätigkeit aufgeben noch sich insoweit beruflich neu orientieren. Demgegenüber sind aber die Sicherungen insbesondere des Tierschutzgesetzes, die jedenfalls in schwerer wiegenden Fällen die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung von Belangen des Tierschutzes und der Schädigung der Gesundheit von Tier und Mensch mindern, für Tierhalterinnen und Tierhalter ungleich stärker.

Beschluss 1 BvR 2380/21 und 1 BvR 2449/21 vom 29.09.2022

Quelle: BVerfG

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