Home-Office-Mythen in Betrieben, Präsenzarbeit in Apotheken, Führung zwischen Freiheit und Verantwortung
In vielen Branchen gilt Homeoffice inzwischen als selbstverständlicher Bestandteil moderner Arbeitskultur, auch wenn der Alltag ein deutlich ambivalenteres Bild zeigt. Während in Deutschland seit 2022 relativ stabil etwa ein Viertel der Beschäftigten zumindest zeitweise von zu Hause arbeitet, bleibt der Präsenzanteil in Gesundheitsberufen strukturell hoch, weil Beratung, Medikationssicherheit und unmittelbare Versorgung sich nicht einfach in Videokonferenzen verlagern lassen. Zugleich ist die Erzählung von der „gewonnenen Freiheit“ oft nur die eine Seite der Medaille: Studien zeigen, dass bis zu 56 Prozent der Jobs zwar potenziell homeofficefähig wären, die tatsächliche Nutzung aber deutlich niedriger liegt und stark von Branche, Betriebsgröße und Führungskultur abhängt. Für Apothekenbetreiber entsteht daraus ein Spannungsfeld, in dem sie zwar mit gesellschaftlichen Erwartungen an flexible Arbeitsmodelle konfrontiert sind, aber gleichzeitig die physische Präsenz im Team absichern müssen, damit Öffnungszeiten, Notdienste und Versorgungsaufträge verlässlich eingehalten werden.
Der von Prof. Ingo Hamm beschriebene Blick auf unterschiedliche Motivationstypen im Homeoffice verdeutlicht, wie heterogen die Interessenlagen hinter dem Wunsch nach Distanzarbeit sind. Er unterscheidet fünf Gruppen mit sehr verschiedenen Motiven – von hoch belasteten „Jongleuren“ mit Betreuungsaufgaben bis hin zu Menschen, die sich aus toxischen Arbeitskontexten zurückziehen möchten. Übertragen auf Apotheken wird deutlich, dass nicht jede Forderung nach Homeoffice automatisch Ausdruck von Bequemlichkeit ist, aber auch nicht jeder Wunsch mit der Verantwortung im unmittelbaren Kundenkontakt vereinbar bleibt. Mitarbeitende in der Warenwirtschaft oder Verwaltung können bestimmte Aufgaben, etwa Rezeptabrechnungs-Vorbereitung, QM-Dokumentation oder Social-Media-Aktivitäten, an einzelnen Tagen von zu Hause erledigen, während pharmazeutische Kernaufgaben fast vollständig an die Offizin gebunden sind. Entscheidend ist, dass Apothekeninhaber verstehen, welche Motive ihre Mitarbeitenden antreiben, und prüfen, ob sich daraus tragfähige, funktionierende Modelle ableiten lassen, statt Homeoffice pauschal als Belohnung oder Misstrauenssignal zu framen.
Gleichzeitig wächst mit jedem zusätzlichen Homeoffice-Tag die Komplexität in Organisation und Führung, insbesondere in kleinen Teams mit häufig weniger als 15 Beschäftigten. Schichtpläne, Notdienstorganisation, Intervision im Team und das situative Einspringen bei hohem Publikumsaufkommen funktionieren nur dann, wenn Präsenz und Erreichbarkeit belastbar geregelt sind. Wird Homeoffice unscharf eingeführt – etwa mit Formulierungen wie „mach das mal von zu Hause, wenn es sich ausgeht“ –, entstehen schnell Lücken im HV-Bereich, Überlastung der präsenten Kolleginnen und Kollegen und diffuse Konflikte über vermeintliche Bevorzugung einzelner Mitarbeitender. Für Apothekenbetreiber stellt sich daher weniger die Frage, ob Homeoffice moderne Führung auszeichnet, sondern unter welchen Bedingungen ein begrenzter Anteil an Remote-Tätigkeiten die Funktionsfähigkeit der Präsenzarbeit nicht gefährdet. Transparente Kriterien, eine klare Zuordnung von Aufgabenblöcken und verlässliche Vertretungsregeln sind hier wichtiger als symbolische Debatten über Fortschritt oder Rückschritt.
Hinzu kommt eine oft unterschätzte rechtliche und versicherungsrechtliche Dimension, die über reine Arbeitsorganisation hinausreicht. Sobald Mitarbeitende regelmäßig im Homeoffice arbeiten, stellen sich Fragen nach Arbeitszeiterfassung, Arbeitsschutz im häuslichen Umfeld, Wegeunfällen und der Absicherung von Arbeitsmitteln wie mobilen Endgeräten oder Dokumenten mit sensiblen Gesundheitsdaten. In Apotheken, die an mehreren Tagen pro Woche mit wenigen Personen pro Schicht arbeiten und häufig auf minimale Personalreserven angewiesen sind, können bereits einzelne Ausfälle im Homeoffice – etwa durch technische Störungen oder fehlende sichere Verbindungen – zu spürbaren Störungen im Ablauf führen. Apothekenbetreiber sind deshalb gut beraten, Homeoffice-Regelungen nicht als informelle Nebenabrede zu behandeln, sondern vertraglich und organisatorisch so zu fassen, dass Zuständigkeiten, Haftungsgrenzen und Datenschutzanforderungen eindeutig geklärt sind. Wo Daten zu Rezepten, Medikationsanalysen oder sensiblen Kundengesprächen ins Spiel kommen, müssen Übertragungswege, Speicherorte und Zugriffsrechte so gestaltet werden, dass kein unnötiges Zusatzrisiko entsteht.
Strategisch stellt sich schließlich die Frage, wie viel kultureller Kern einer Präsenzorganisation sich mit hybriden Arbeitsformen verträgt, ohne dass gemeinsame Identität und Lernprozesse ausdünnen. Ein Teil der Attraktivität von Apotheken als Arbeitgeber entsteht aus unmittelbarer Teamnähe, spontaner kollegialer Rücksprache am HV-Tisch und gemeinsam erlebten Alltagssituationen mit Stammkundschaft – Faktoren, die sich nur begrenzt in digitale Settings übertragen lassen. Gleichzeitig werden flexible Elemente zunehmend zum Wettbewerbsfaktor auf einem Arbeitsmarkt, in dem jüngere Fachkräfte hybride Modelle als Standard ansehen und sich zwischen Branchen bewegen können. Für Apothekenbetreiber bedeutet dies, in langfristigen Personalstrategien abzuwägen, ob beispielsweise ein Homeoffice-Tag pro Woche für definierte Funktionsbereiche die Bindung qualifizierter Mitarbeitender stärkt, ohne die Präsenzversorgung zu schwächen. In Betrieben, die diese Gratwanderung bewusst gestalten, entsteht eine Haltung, die weder in die Schwarz-Weiß-Logik „Homeoffice ja oder nein“ verfällt noch Freiheitsversprechen verkauft, die im realen Schichtbetrieb nie eingelöst werden können.
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