Sehr geehrte Apothekerin, sehr geehrter Apotheker,
hier ist der vollständige Text für Sie:
CELESIO
Berlin - „Zweck dieser Handlung wird hauptsächlich der Absatz an die Apothekerkundschaft sein; doch sollen andere eingeschlagene Geschäfte und der Absatz an Techniker und Handelsleute Insonderheit für den Anfang nicht ausgeschlossen sein. Ob und inwieweit ein Platz im Detail-Geschäft damit zu verbinden ist, soll von der Rücksicht, welche auf die Apotheker zu nehmen ist, abhängen." Der Geschäftszweck des Stuttgarter Pharmahändlers Celesio wurde vor 175 Jahren formuliert - und ist aktueller denn je.
Unternehmerische Erben: Die Celesio/Gehe-Spitze erinnert am Grab von Franz Ludwig Gehe an die 175-jährige Firmengeschichte (Wolfgang Mähr, Dr. Fritz Oesterle, André Blümel, Dr. Christian Holzherr, v.l.n.r.). Foto: Elke Hinkelbein
Am 1. Mai 1835 wird in Dresden die „Drogerie- und Farbwarenhandlung Gehe
& Comp." gegründet. Inhaber des Pharmagroßhandels ist der
25-jährige Kaufmann Franz Ludwig Gehe aus Leipzig, der sich soeben mit
seinem Kompagnon, einem Apotheker, überworfen hat. Nachdem er von seinem
Bekannten Friedrich List über die Möglichkeiten des geplanten
Eisenbahnnetzes erfahren hat, startet Gehe am künftigen
Verkehrsknotenpunkt an der Elbe mit drei Mitarbeitern sein eigenes
Geschäft.
Von Anfang an schickt Gehe Mitarbeiter auf Reisen zu seinen Kunden - der
Apotheken-Außendienst ist erfunden. Vierundzwanzig Jahre später holt
Gehe seinen Neffen in die Firma, den Chemiker Dr. Rudolph August
Luboldt. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigt das Unternehmen mehr als 200
Mitarbeiter und hat laut Stadtchronik den Rang „des ersten
pharmazeutischen Drogengeschäftes der Erde". Gemeinsam steigen die
beiden Unternehmer zusätzlich zum Vertrieb in die Veredelung von
Rohdrogen und die Produktion von chemisch-pharmazeutischen
Ausgangsstoffen ein - gegen den Widerstand einiger Apotheker.
Nach dem Tod des kinderlosen Firmengründers im Jahr 1882 führt Luboldt
das Geschäft fort. Dessen Sohn wird der letzte Repräsentant der Familie
im Unternehmen sein: Ebenfalls ohne Nachfolger, bringt Dr. Walter
Luboldt die Firma 1904 an die Börse und steigt aus der Geschäftsführung
aus.
1922 gründet Gehe die erste Niederlassung auf eigenem Gelände in
Stuttgart, die später der Nukleus für den Neubeginn sein wird. Denn das
Stammhaus in Dresden sowie die Niederlassungen in Chemnitz, Halle/Saale,
Breslau und Krakau gehen unter sowjetischer Besatzung verloren. Mit
einer neuen Hauptverwaltung in München und den Vertriebszentren in
Stuttgart, Kassel und Sulzbach-Rosenberg startet Gehe neu.
Signalfarbe Blau: Anfang des 20. Jahrhunderts führte Gehe Mehrfachlieferwannen ein, zunächst aus Holz, dann aus Kunststoff. Foto: Elke Hinkelbein
1973 wird der Duisburger Mischkonzern Haniel Mehrheitsaktionär bei
Gehe. Die Familiendynastie übernimmt ein Aktienpaket von der Dresdner
Bank und bringt ihre ab 1969 erworbenen regionalen Pharmagroßhandlungen
in das Unternehmen ein. 1981 wird der Firmensitz nach Stuttgart verlegt,
die heutige Hauptverwaltung im Stadtteil Bad Cannstatt wird 1987
bezogen.
Anfang der 1990er-Jahre steigt Gehe durch die Übernahme von Azuchemie,
Aliud, Allphamed und Jenapharm in die Pharmaproduktion ein und 1996
wieder aus - ein Zugeständnis an die Industrie.
Stattdessen beginnt die internationale Expansion. Gehe ist nach der
Übernahme der französischen OCP im Jahr 1993 der größte europäische
Pharmagroßhändler - erst 2008 verliert der Konzern diese Stellung an
Phoenix. Wie in Mannheim ist man auch in Stuttgart im Einkaufsfieber: Zu
Großhandelstöchtern in Belgien, Frankreich, Portugal und Tschechien
kommen 1995 mit dem britischen Großhändler AAH die ersten Apotheken.
Zentrum Bad Cannstatt: Celesio wird von der Konzernzentrale in Stuttgart geführt. Foto: Elke Hinkelbein
1999 wird der langjährige Rechtsberater des Unternehmens, Dr. Fritz
Oesterle, zum Konzernchef berufen. Im selben Jahr gründet Gehe durch die
Zusammenlegung seiner britischen Töchter die größte Apothekenkette in
Europa. In den Folgejahren werden in Tschechien, Italien, Belgien,
Irland, den Niederlanden und Norwegen Apotheken gekauft.
Zur Jahrtausendwende gelingt Gehe im Wettstreit mit der Sanacorp die
Mehrheitsübernahme der österreichischen Genossenschaft Herba Chemosan.
Deren Vorstandschef Wolfgang Mähr ist heute bei Celesio für das
Großhandelsgeschäft verantwortlich.
2003 erhält die bereits zehn Jahre zuvor eingeführte Konzernholding den
Kunstnamen Celesio. Im Wettrennen um die Kontrolle über die Anzag
übernimmt Celesio von der DG-Bank ein rund 13-prozentiges Aktienpaket am
Frankfurter Mitbewerber. Eine vereinbarte Call-Option zugunsten der
Sanacorp läuft später aus, weil das Bundeskartellamt der Genossenschaft
die Mehrheitsübernahme untersagt. Bis 2006 kauft Celesio noch
Großhändler in Slowenien, Portugal und Dänemark, 2009 folgt der Einstieg
in den brasilianischen Markt
Teure Entscheidung: DocMorris hat Celesio nicht zum gewünschten Ziel gebracht. Foto: Elke Hinkelbein
Der spektakulärste Streich ist jedoch die Übernahme der
niederländischen Versandapotheke DocMorris im April 2007. Weil deren
Apotheke in Saarbrücken Gegenstand eines Vorlageverfahrens beim
Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist, steht der Stuttgarter
Pharmahändler plötzlich im Licht der Öffentlichkeit. Was zu diesem
Zeitpunkt unbekannt ist: Bereits 2004 hat sich der Konzern bei der
EU-Kommission über italienische Regelungen zum Besitz von Apotheken
beschwert. Der EU-Zug rollt - aber am Ende nicht in Richtung Bad
Cannstatt.
„Wenn Bahnen gar nicht mehr zum notwendigen Ziele führen, müssen sie
verlassen werden", zitierte Konzernchef Oesterle den Firmengründer beim
Festakt in Dresden. Wie die unternehmerischen Erben dieses Vermächtnis
auslegen werden?
Patrick Hollstein, Freitag, 30. April 2010, 21:00 Uhr
Pharmahandel: Celesio feiert 175-jähriges Jubiläum
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