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Steuer & Recht |
Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat durch Urteil vom 16. Januar 2023 zwei in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren ergangene Entscheidungen des Amtsgerichts Mannheim und des Oberlandesgerichts Karlsruhe aufgehoben, weil diese den Beschwerdeführer in seinem Recht auf faires Verfahren verletzt haben. Dem Beschwerdeführer wurde die Einsicht in Wartungs- und Reparaturunterlagen des Geschwindigkeitsmessgeräts verwehrt, worin – im Anschluss an die nach den angegriffenen Entscheidungen ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens zu sehen ist.
Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, als Kraftfahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h überschritten zu haben. Ihm wurde deshalb zunächst mit Bußgeldbescheid vom 1. Februar 2017 und anschließend Urteil des Amtsgerichts vom 22. August 2017 eine Geldbuße in Höhe von 160 Euro sowie ein einmonatiges Fahrverbot auferlegt. Während des Bußgeldverfahrens begehrte der Beschwerdeführer die Übermittlung der Ermittlungsakte, der Rohmessdaten sowie der Lebensakte und der Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts. Die Bußgeldbehörde stellte dem Beschwerdeführer die Ermittlungsakte sowie einige der gewünschten Rohmessdaten zur Verfügung. Eine Einsicht in die Lebensakte und in die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts erhielt er nicht.
Das Amtsgericht lehnte den wiederholten Einsichtsantrag (bzgl. Lebensakte und in die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts) sowie den Antrag auf Übermittlung der 126 Einzelmessdaten mit der Begründung ab, dass die Beweiserhebung als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen sei.
Zudem bestehe kein Anspruch auf Beiziehung der Lebensakte sowie auf Bildung eines größeren Aktenbestandes, zumal eine Lebensakte nach den Angaben der Bußgeldbehörde nicht geführt werde. Das Oberlandesgericht sah in der amtsgerichtlichen Entscheidung keine Rechtsfehler. Im Hinblick auf die Ablehnung der Beiziehung von Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweisen des Messgeräts habe der Messbeamte als Zeuge angegeben, dass keine eichrelevanten Störungen oder Defekte aufgetreten seien, so dass das Amtsgericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nicht verpflichtet gewesen sei, beim Verwender des Messgeräts Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe anzufordern, zumal der Messbeamte solche auch verneint habe.
Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens aufgrund der unterbliebenen Einsichtsgewährung in die Wartungs- und Reparaturunterlagen rügt, zulässig und begründet.
Das Urteil des Amtsgerichts Mannheim sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren, indem darin jeweils unter Annahme eines Gleichlaufs der gerichtlichen Aufklärungspflicht mit dem Einsichtsrecht des Betroffenen dessen Zugang zu den Wartungs-/Reparaturunterlagen des Messgeräts abgelehnt wurde.
Wie das Bundesverfassungsgericht – nach Erlass der angegriffenen Entscheidungen – festgestellt hat, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen. Hierbei handelt es sich nicht um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen.
Im Rechtsstaat muss dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dabei wendet sich das Gebot zur fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Strafverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben. Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert daher „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Beschuldigten andererseits. Der Beschuldigte hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte. Diese, sowie die nachfolgenden Grundsätze, gelten gleichermaßen für das Strafverfahren wie für das Ordnungswidrigkeitenverfahren.
Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt demnach, dass der Beschuldigte eines Strafverfahrens bzw. Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind. Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte gefundenen entlastenden Informationen können von der Verteidigung zur fundierten Begründung eines Antrags auf Beiziehung vor Gericht dargelegt werden. Der Betroffene kann so das Gericht, das von sich aus keine sachlich gebotene Veranlassung zur Beiziehung dieser Informationen sieht, auf dem Weg des Beweisantrages oder Beweisermittlungsantrages zur Heranziehung veranlassen.
Diese Grundsätze haben das Amts- und Oberlandesgericht verkannt, indem sie die Einsichtsgesuche betreffend die Wartungs- und Reparaturunterlagen als Beweisanträge bewertet und diese im Rahmen der Prüfung einer gerichtlichen Aufklärungspflicht abgelehnt haben. Der aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgende Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen – aber vorhandenen – Informationen verpflichtet nicht etwa das Gericht, die geforderten Unterlagen aufgrund seiner Aufklärungspflicht beizuziehen, sondern entspringt allein dem Recht des Betroffenen, die Grundlagen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs einzusehen und selbst zu prüfen.
Die Entscheidungen des Amts- und Oberlandesgerichts waren daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
Urteil 1 VB 38/18 vom 16.01.2023
Quelle: VerfGH Baden-Württemberg
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