• 19.05.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute: Umsatz contra Gerechtigkeit, Rücklagen contra Maß, Apothekenkammer contra Großbetrieb

    APOTHEKE | Medienspiegel & Presse | Die Apothekerkammer Nordrhein muss ihre Rücklagenpolitik überdenken: Ein Urteil erklärt die Beitragspraxis für rechtswidrig, lässt aber ...

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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |

Apotheken-Nachrichten von heute: Umsatz contra Gerechtigkeit, Rücklagen contra Maß, Apothekenkammer contra Großbetrieb

 

Ein Düsseldorfer Urteil offenbart das Spannungsfeld zwischen solidarischer Beitragspflicht, haushaltspolitischer Selbstverantwortung und unternehmerischem Protest im Gesundheitswesen

Ein Düsseldorfer Urteil zur Beitragspraxis der Apothekerkammer Nordrhein bringt nicht nur haushaltspolitische Mängel ans Licht, sondern stellt die Solidarbasis der Kammerfinanzierung grundsätzlich infrage: Großapotheken wehren sich gegen pauschale Umsatzbesteuerung, das Gericht beanstandet übermäßige Rücklagen, und die Kammer gerät in ein Spannungsfeld zwischen Recht, Gerechtigkeit und politischer Verantwortung. Während zentrale Fragen wie die zulässige Bemessungsgrundlage für Kammerbeiträge weiter offenbleiben, zeigt der Fall exemplarisch, wie sehr sich wirtschaftliche Realität und kammerinterne Finanzierungssysteme inzwischen voneinander entfernt haben – und welche juristischen, politischen und standesethischen Fragen sich daraus für die Zukunft ableiten.

 

Umsatz contra Gerechtigkeit, Rücklagen contra Maß, Apothekenkammer contra Großbetrieb

Ein Düsseldorfer Urteil offenbart das Spannungsfeld zwischen solidarischer Beitragspflicht, haushaltspolitischer Selbstverantwortung und unternehmerischem Protest im Gesundheitswesen

Der Streit um die Höhe und Berechnungsgrundlage von Kammerbeiträgen hat mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf eine neue Wendung genommen – jedoch ohne abschließende Klärung der eigentlichen Kernfrage. Ob Großapotheken mit außergewöhnlich hohem Umsatz künftig proportional stärker zur Kasse gebeten werden dürfen, ließ das Gericht offen. Stattdessen rügte es die Rücklagenpolitik der Apothekerkammer Nordrhein und erklärte die derzeitige Beitragspraxis wegen überhöhter Rückstellungen für rechtswidrig. Damit wird aus einer rechtstechnischen Auseinandersetzung um Beitragsbescheide eine grundsätzliche Systemfrage: Wie viel Solidarität darf eine Kammer erzwingen, und wo beginnt die fiskalische Selbstgefälligkeit?

Auslöser des Verfahrens war die Änderung der Beitragsordnung der AKNR zum 1. Januar 2021. Mit der Abschaffung der bisherigen Kappungsgrenze bei zwölf Millionen Euro Umsatz wurde die Bemessung der Mitgliedsbeiträge vollständig auf den Bruttoumsatz umgestellt. Dies betraf insbesondere die wenigen, aber finanzstarken Großapotheken, die mit spezialisierten Geschäftsmodellen – etwa in der Zytostatika-Versorgung – deutlich höhere Umsätze erzielen als klassische Vor-Ort-Apotheken. Für den klagenden Apotheker bedeutete dies Beitragsforderungen im fünfstelligen Bereich pro Quartal. Seine Kritik: Die Beitragshöhe sei nicht am Ertrag, sondern ausschließlich am Umsatz ausgerichtet, obwohl nur der Ertrag seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abbilde. In einem Niedrigmargen-Geschäft wie der Onkologieversorgung führe dies zu einer massiven Überlastung – ein Verstoß gegen Gleichheitsgrundsatz und das verfassungsrechtlich verankerte Äquivalenzprinzip.

Die Kammer wies diesen Vorwurf zurück und berief sich auf vergleichbare Modelle in anderen Bundesländern. In Westfalen-Lippe sei das System der ungekappten Umsatzbemessung nicht nur vom Oberverwaltungsgericht bestätigt, sondern auch vom zuständigen Ministerium ausdrücklich genehmigt worden. Für die große Mehrheit der Apotheken – laut Kammer rund 98 Prozent – sei das Modell sachgerecht und verursache keine Überforderung. Es sei nicht Aufgabe der Kammer, einzelne unternehmerische Geschäftsentscheidungen wie das Betreiben eines hochspezialisierten Filialnetzes in die Beitragsgerechtigkeit zu integrieren. Wer sich bewusst für ein Geschäftsmodell mit über 50 Millionen Euro Jahresumsatz entscheide, trage auch die Konsequenzen – im Erfolgs- wie im Beitragsfall.

Doch an dieser Stelle schaltete sich das Gericht mit einer unerwarteten Perspektive ein. Nicht die Beitragslogik, sondern die Rücklagenstrategie der Kammer geriet ins Visier der Richter. Nach Auswertung der Haushaltsunterlagen und der Bilanzierungspraxis befand das Verwaltungsgericht, dass die Rückstellungen der Kammer den zulässigen Rahmen sprengten. Die Haushaltsordnung der AKNR sehe eine Rücklage in Höhe von sechs Monatsausgaben vor – eine Grenze, die in den geprüften Jahren 2021 bis 2024 deutlich überschritten worden sei. Die Folge: Die Beiträge seien nicht nur überhöht angesetzt worden, sondern stünden in keinem nachvollziehbaren Verhältnis zur tatsächlichen Finanzlage der Kammer.

Die Argumentation des Klägers erhielt dadurch indirekt Schützenhilfe – allerdings auf anderem Weg. Denn sein zweites Hauptargument lautete, dass die Aufhebung der Kappungsgrenze nicht durch eine reale finanzielle Notwendigkeit gedeckt gewesen sei. Die Kammer wiederum hatte sich auf haushaltsrechtliche Vorsicht berufen und betont, dass ihr im Gegensatz zu staatlichen Stellen keine Kreditaufnahme offenstehe. Deshalb sei eine großzügige Rücklagenbildung unumgänglich, um Zahlungsfähigkeit und Planungssicherheit zu gewährleisten. Das Gericht ließ dieses Argument jedoch nur eingeschränkt gelten. Zwar sei eine solide Haushaltsführung anzuerkennen, doch müsse sie verhältnismäßig bleiben. Wenn Rücklagen zur strukturellen Beitragsüberhöhung führten, sei das Ziel der Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung verletzt.

Ein weiterer Streitpunkt betraf die Heranziehung von Umsatzdaten für Kammermitglieder, die keine Selbstauskunft geben. Hier verlässt sich die AKNR auf steuerliche Gewinnzahlen, was der Kläger für widersprüchlich hielt. Wenn der Beitrag offiziell nach Umsatz bemessen werde, dürfe sich die Kammer nicht bei fehlenden Angaben auf die Ertragsdaten des Finanzamts stützen – dies sei methodisch inkonsequent und fördere Ungleichbehandlung. Auch hierzu äußerte sich das Gericht kritisch, wenn auch nicht abschließend.

Die Frage, ob das reine Umsatzkriterium im Beitragswesen einer Kammer rechtlich tragfähig ist, bleibt somit vorerst unbeantwortet. Das Urteil greift nicht in die Grundstruktur der Beitragsordnung ein, sondern moniert die daraus resultierende Praxis in Hinblick auf Rücklagenbildung und Beitragsverhältnismäßigkeit. Für die betroffenen Großapotheken mag dies wie ein Pyrrhussieg wirken: Die Beiträge müssen zwar korrigiert werden, aber die grundsätzliche Systemfrage bleibt weiterhin ungelöst.

Für Kammern bundesweit hat das Urteil dennoch Signalwirkung. Es zwingt zu einer Neubewertung der eigenen Finanzarchitektur und könnte dazu führen, dass künftige Beitragsordnungen stärker an nachvollziehbaren betriebswirtschaftlichen Parametern ausgerichtet werden müssen. Gleichzeitig zeigt sich, dass das Spannungsfeld zwischen solidarischer Umlagefinanzierung und individueller Leistungsfähigkeit neu justiert werden muss – gerade in einem Berufsfeld, das zunehmend unter ökonomischen Druck gerät und in dem sich die Schere zwischen Mikro-Apotheke und Spezialversorger weiter öffnet.

Im Schatten der juristischen Detailfragen steht am Ende ein übergeordnetes Dilemma: Wie organisiert eine Kammer Gerechtigkeit, wenn ihre Mitglieder betriebswirtschaftlich in völlig unterschiedlichen Welten leben? Und wie viel fiskalische Selbstverantwortung darf sich eine Kammer leisten, ohne das Vertrauen der Beitragszahler zu verspielen? Das Düsseldorfer Urteil hat darauf keine endgültige Antwort gegeben – aber es hat die Fragen scharf gestellt.

 

Verfassungsmaß, Verteilungslogik, Verwaltungsgrenze

Warum die Kammerbeiträge für Großapotheken vor Gericht landeten, das Rücklagenargument nicht trug und die Frage nach Umsatz oder Ertrag weiter schwebt

Die Apothekerkammer Nordrhein (AKNR) steht wegen ihrer seit 2021 geltenden Beitragsordnung vor einem empfindlichen juristischen Rückschlag: Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat die maßgeblichen Haushaltsplanungen der Jahre 2021 bis 2024 als rechtswidrig eingestuft und die darauf basierenden Beitragsbescheide für nichtig erklärt. Im Kern ging es dabei nicht um die oft diskutierte, aber juristisch weiter ungeklärte Frage, ob Kammerbeiträge an den Umsatz oder den Ertrag von Apotheken geknüpft werden dürfen, sondern um die Höhe und Systematik der Rücklagenbildung. Die Klage eines sogenannten „Großapothekers“, der seit der Aufhebung der Beitragsdeckelung mit fünfstelligen Quartalsbeiträgen belastet wurde, führte zu einem wegweisenden Urteil – mit grundsätzlicher Wirkung auf die Beitragslogik, jedoch ohne Klärung der strittigen Umsatzbemessung.

Die AKNR hatte im Jahr 2020 beschlossen, die bis dahin gültige Deckelung der beitragspflichtigen Umsätze bei zwölf Millionen Euro aufzuheben. Fortan sollten sämtliche Umsätze – unabhängig von ihrer absoluten Höhe – zur Beitragsbemessung herangezogen werden. Befürworter lobten die neue Regelung als gleichheitsgerecht, da sie alle Apotheken proportional belastet. Kritiker hingegen verwiesen auf die strukturelle Benachteiligung von spezialversorgenden Großbetrieben, die mit hohem Umsatz, aber vergleichsweise geringer Rendite wirtschaften – etwa im Bereich Zytostatikaherstellung. Der Kläger argumentierte, die Beitragsberechnung nach Umsatz sei nicht nur wirtschaftlich unangemessen, sondern verfassungswidrig, da sie seine tatsächliche Leistungsfähigkeit ignoriere. Gerade Spezialapotheken mit hohem Wareneinsatz und niedriger Marge würden so systematisch überproportional belastet. Dies widerspreche sowohl dem Gleichheitsgrundsatz als auch dem Äquivalenzprinzip, wonach Beiträge in einem vertretbaren Verhältnis zur Inanspruchnahme von Kammerleistungen stehen müssten.

Im Verfahren konzentrierte sich das Gericht jedoch nicht auf die umstrittene Umsatzbindung, sondern auf die materielle Rechtfertigung der Rücklagen, aus denen sich der Beitragsbedarf rechnerisch ergibt. Die Kammer hatte geltend gemacht, sie benötige eine allgemeine Rücklage zur Absicherung gegen verspätete Beitragserhebungen und unvorhergesehene Einnahmeausfälle. Dies sei notwendig, weil insbesondere größere Apotheken ihre Jahresumsätze teils erst spät melden könnten, was die Beitragsberechnung verzögere. Für die sogenannten Verlust- und Ausgleichsrücklagen veranschlagte die Kammer teils über 50 Prozent ihrer jährlichen Ausgaben – laut Urteil des Gerichts ein völlig überzogener Wert. Rücklagen in dieser Größenordnung seien nicht nur haushaltstechnisch fragwürdig, sondern widersprächen auch den Anforderungen an die Schätzgenauigkeit in öffentlich-rechtlichen Haushaltsplänen.

Denn wie das Gericht feststellte, darf eine Kammer zwar Rücklagen bilden, doch nur in einem durch nachvollziehbare Zweckbindung und ein angemessenes Verhältnis gedeckten Rahmen. Eine pauschale Absicherung von 50 bis 60 Prozent der Jahresausgaben überschreite dieses Maß deutlich. Eine valide Risikoanalyse, die solche Beträge rechtfertigen könnte, legte die Kammer im Verfahren nicht vor. Auch das Argument, die Haushalts- und Kassenordnung der Kammer schreibe Betriebsmittel für sechs Monate vor, verfing nicht – denn selbst diese interne Regelung müsse im Einklang mit den grundrechtlich verankerten Prinzipien der Beitragsgerechtigkeit stehen. Eine pauschale Übernahme solcher Mindestgrößen als Begründung für real angesparte Rücklagen genügte dem Gericht nicht.

Mit deutlichen Worten verwies das Verwaltungsgericht auf die Gefahr einer unzulässigen Vermögensbildung unter dem Deckmantel vermeintlicher Haushaltsvorsorge. Rücklagen müssten an konkrete Risiken gekoppelt und nachvollziehbar kalkuliert sein – sonst seien sie als Vermögen und nicht als Beitragspuffer zu werten. Auch der Versuch der Kammer, durch nachträgliche Argumentation eine ex-post-Kalkulation ihrer Sicherheitsreserven zu rechtfertigen, überzeugte die Richter nicht. Haushaltspläne müssten ex-ante sachgerecht, realistisch und transparent erstellt sein – ein nachträglicher Versuch, den Haushaltsbedarf schönzurechnen, sei mit dem geltenden Beitragsrecht unvereinbar.

Besonders deutlich wird die gerichtliche Kritik an der sogenannten Ausgleichsrücklage: Diese wurde von der Kammer mit knapp einem Viertel der erwarteten Einnahmen angesetzt – ohne dass es konkrete Hinweise auf eine bevorstehende Zahlungsunfähigkeit zahlreicher Apotheken gegeben hätte. In der bisherigen Rechtsprechung wurden Rücklagen in Höhe von 15 bis 30 Prozent als angemessen bewertet. Alles darüber hinaus müsse im Einzelfall substantiiert begründet werden. Die AKNR hingegen habe einen pauschalen Sicherheitsabschlag einkalkuliert, der mit dem tatsächlichen Risiko in keiner Relation stehe.

Auch der Verweis auf das betreute Versorgungswerk konnte der Kammer nicht helfen. Das Gericht stellte klar, dass Rücklagen für das Versorgungswerk – aufgrund klar geregelter Haftungsgrenzen – nicht aus dem Haushalt der Kammer gespeist würden und damit auch keine beitragsrechtliche Relevanz entfalten. Eine vergrößerte Rücklage als Vorsorge für Verbindlichkeiten der Versorgungseinrichtung sei also sachfremd.

In der Konsequenz erklärte das Verwaltungsgericht die angegriffenen Beitragsbescheide für nichtig. Die Ermittlung des Beitragsbedarfs durch die Kammer sei fehlerhaft, da sie auf überhöhten, haushaltsrechtlich nicht gerechtfertigten Rücklagen beruhte. Auch der Einwand der Kammer, eine Korrektur könne allenfalls anteilig auf Basis des Rücklagenanteils erfolgen, wurde vom Gericht zurückgewiesen. Eine solche Berechnung sei nicht Aufgabe des Gerichts, sondern ein unzulässiger Eingriff in die Selbstverwaltung der Kammer.

Die zentrale Streitfrage aber – ob eine Beitragsbemessung am Umsatz verfassungskonform ist oder ob der Ertrag maßgeblich sein müsste – blieb auch in diesem Urteil offen. Zwar verweist das Urteil auf mehrere gerichtliche Entscheidungen, die eine Bemessung nach Umsatz grundsätzlich für zulässig erachteten. Eine obergerichtliche oder gar höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Frage steht jedoch weiter aus. Für die betroffenen Apotheker bedeutet das: Die Systemfrage bleibt bestehen. Gegen das Urteil kann die Kammer Berufung beim Oberverwaltungsgericht in Münster einlegen. Solange dies nicht geschieht oder kein Folgeurteil Klarheit schafft, bleibt die Debatte um Gerechtigkeit und Systematik der Kammerbeiträge in Nordrhein weiter offen.

 

Regulierung braucht Verhältnismäßigkeit, Versorgung braucht Realitätssinn, Kommunikation braucht Verantwortung

Wie die EU-Abwasserrichtlinie KARL zur Projektionsfläche wirtschaftlicher Ängste wird, warum Metformin nicht verschwindet und was Apotheken jetzt klären müssen

Dass sich Brüssels Regulierungsapparate mit ihren 32.000 Angestellten gelegentlich in absurden Detailfragen verlieren und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Industrien belasten, ist eine weit verbreitete, oft zutreffende Einschätzung. Doch so berechtigt die Kritik an der Überregulierung auf vielen Feldern auch ist – sie darf nicht blind machen für jene Initiativen, die in ihrer Zielrichtung sinnvoll und notwendig sind. Die im Frühjahr 2024 verabschiedete Kommunalabwasserrichtlinie, intern als KARL abgekürzt, ist ein solcher Fall. Mit ihr wird der Versuch unternommen, ein ernstzunehmendes Umweltproblem in den Griff zu bekommen: die Belastung unserer Gewässer durch Spurenstoffe aus Arzneimitteln und Kosmetika. Die neue Richtlinie sieht vor, Hersteller solcher Produkte künftig finanziell an der Nachrüstung kommunaler Kläranlagen zu beteiligen – konkret zu mindestens 80 Prozent an den Kosten der vierten Reinigungsstufe. Das klingt nicht nur plausibel, sondern ist auch ökologisch längst überfällig.

Doch kaum war die Richtlinie beschlossen, sah sich die Pharmabranche bemüßigt, den Worst Case zu proklamieren. Ein Branchenverband ließ durchrechnen, was passieren könnte, wenn die Mehrkosten für die Abwasseraufbereitung eins zu eins auf den Herstellungspreis eines Wirkstoffs umgelegt würden – exemplarisch am altgedienten Blutzuckersenker Metformin. Das Ergebnis: eine rechnerische Vervierfachung der Produktionskosten. Die Empörung war kalkuliert, das Echo ließ nicht lange auf sich warten. In großen Medien wie dem „Spiegel“ war bereits die Rede vom möglichen Aus der Metformin-Produktion – eine Schlagzeile, die von maximaler emotionaler Wirkung war, aber von minimaler politischer Substanz.

Was in der Debatte auffallend untergeht, ist die Realität des Gesetzgebungsprozesses: KARL ist bislang nur ein EU-Rahmen. Die konkrete Umsetzung obliegt den Mitgliedstaaten, die bis zu zwei Jahrzehnte Zeit haben, die Maßgaben in nationales Recht zu übertragen. Es ist also keineswegs so, dass Apotheken morgen mit Lieferausfällen rechnen müssten oder Diabetespatienten in existenzielle Not geraten. Auch ist nicht zu erwarten, dass sich die Bundesregierung von Beginn an für eine rigide Herstellerbelastung entscheidet, ohne ökonomische Folgewirkungen abzuwägen. Niemand in der Berliner Gesundheitspolitik – gleich welcher Couleur – kann ein Interesse daran haben, die generikagestützte Arzneimittelversorgung im Land fahrlässig zu destabilisieren. Vielmehr wird mit einer mehrgleisigen Lösung zu rechnen sein: solidarische Kostenverteilung, differenzierte Branchenbeteiligung, eventuell auch Ausnahmen für kritische Wirkstoffe. KARL ist kein ökologischer Kahlschlag, sondern ein politischer Rahmen mit Spielraum.

Dass ausgerechnet Metformin, ein seit Jahrzehnten bewährter, kostengünstiger, umweltchemisch gut erforschter Wirkstoff, zum Symbol für vermeintliche Abwasser-Willkür wird, ist eine kommunikative Fehlsteuerung, die sich letztlich als Bumerang für die Branche erweisen könnte. Denn anstatt das Gespräch mit den politischen Entscheidern zu suchen und konstruktive Umsetzungsvorschläge zu machen, bedienen Pharmaverbände derzeit vor allem die Reflexe von Panik und Polarisierung – ein Verhalten, das zwar kurzfristig Schlagzeilen produziert, mittelfristig aber Vertrauen kostet. Wer den Eindruck erweckt, dass Umweltschutz zwangsläufig Versorgung gefährdet, verspielt die Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung einer umweltgerechten Arzneimittelpolitik.

Für Apotheken bedeutet das: Aufklärung leisten. Wenn verunsicherte Kunden nachfragen, ob Metformin bald nicht mehr lieferbar ist oder ob sie sich bevorraten müssen, sollte die Antwort ruhig, faktenbasiert und pragmatisch sein. Nein, es droht kein Produktionsstopp. Nein, die neue Richtlinie wirkt nicht über Nacht. Und ja, die Versorgung wird weiterhin durch gesetzliche, regulatorische und ökonomische Schutzmechanismen stabil gehalten. Alles andere ist medieninduzierter Populismus – verständlich in seiner Dynamik, aber nicht tragfähig in der Sache. Die Aufgabe liegt jetzt darin, zwischen berechtigtem Umweltschutz und verantwortbarer Versorgungsrealität zu vermitteln. Denn die entscheidende Ressource in der Apotheke ist nicht nur das Arzneimittel, sondern das Vertrauen der Menschen, die es brauchen.

 

Gesundheitsversprechen auf dem Prüfstand, Botanicals im Rechtsvakuum, europäische Werberichtlinien im Zielkonflikt

Warum der EuGH bei pflanzlichen Nahrungsergänzungsmitteln restriktiv bleibt, welche Lücke in der Health-Claims-Verordnung klafft und was der BGH nun entscheiden muss

Gesundheitsbezogene Werbung für pflanzliche Nahrungsergänzungsmittel steht seit Jahren im Fokus juristischer Auseinandersetzungen – und im Zentrum eines tiefgreifenden regulatorischen Dilemmas, das nun durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg grundlegend adressiert wurde. Hintergrund ist die Health-Claims-Verordnung (EG Nr. 1924/2006), die für Werbung mit gesundheitsbezogenen Angaben bei Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln einen klaren Rahmen vorgibt: Solche Aussagen sind nur dann erlaubt, wenn sie explizit genehmigt und in die EU-Liste zugelassener Claims aufgenommen wurden. Für sogenannte Botanicals – pflanzliche Stoffe mit potenziell gesundheitsfördernder Wirkung – existiert eine solche Liste bislang nicht. Damit war über Jahre ein rechtliches Niemandsland entstanden, in dem viele Hersteller bewusst operierten, sich aber nun auf juristischem Glatteis wiederfinden.

Ausgangspunkt des aktuellen Falls war ein Nahrungsergänzungsmittel des Unternehmens Novel Nutriology, ein „Anti-Stress-Komplex“ mit Extrakten aus Safran und Melonensaft, das mit Wirkversprechen wie „stimmungsaufhellend“ und „reduziert Erschöpfung“ beworben wurde. Der Verband Sozialer Wettbewerb sah hierin einen klaren Verstoß gegen die Health-Claims-Verordnung und klagte. Die Sache ging bis zum Bundesgerichtshof, der die zentrale Frage an den EuGH weiterreichte: Ist gesundheitsbezogene Werbung für Botanicals auch dann unzulässig, wenn es mangels offizieller Entscheidung der Kommission überhaupt keine Liste gibt?

Die Antwort des EuGH, verkündet am 30. April 2025 (Rechtssache C-386/23), ist deutlich – und restriktiv: Auch wenn die Europäische Kommission die Prüfung botanischer Stoffe vorübergehend ausgesetzt hat, bleibt der Grundsatz bestehen, dass gesundheitsbezogene Aussagen nur mit Genehmigung erlaubt sind. Eine fehlende Liste ist kein Freibrief, sondern führt im Gegenteil zur Unzulässigkeit der Werbung. Werbeaussagen, die auf eine konkrete physiologische Wirkung abzielen, benötigen zwingend die Zulassung gemäß Artikel 13 Absatz 3 der Verordnung – egal ob es sich um Vitamine, Mineralstoffe oder Pflanzenstoffe handelt.

Für die Praxis bedeutet das: Sämtliche Claims über pflanzliche Stoffe, etwa beruhigende, aktivierende, stoffwechselregulierende oder immunstärkende Effekte, dürfen derzeit nicht mehr ohne explizite Zulassung kommuniziert werden – selbst wenn sie wissenschaftlich plausibel oder in traditionellen Anwendungen etabliert sind. Die Argumentation vieler Hersteller, man befinde sich in einem „wartenden Zustand“, verfängt damit juristisch nicht. Der EuGH macht deutlich, dass die Kommissionsentscheidung über die Prüfungsaussetzung nicht mit einer stillschweigenden Duldung verwechselt werden darf.

Kritiker sehen darin ein Auseinanderdriften von regulatorischer Praxis und Marktrealität. Die Kommission hat bislang über 1.500 pflanzliche Health Claims auf Eis gelegt – teils aus Sorge vor unzureichender Evidenzbasis, teils wegen des methodischen Streits um wissenschaftliche Bewertungsverfahren. Hersteller und Branchenverbände beklagen nun, sie würden durch die starre Auslegung der Verordnung in ihrer Innovations- und Kommunikationsfähigkeit massiv eingeschränkt. Besonders problematisch: Zahlreiche Produkte mit traditionell belegter Wirkung stehen nun mit einem Werbeverbot im Regal – das Risiko für Abmahnungen durch Wettbewerbsverbände ist enorm gestiegen.

Die Entscheidung des EuGH verlagert den Ball nun zurück an den Bundesgerichtshof, der in der deutschen Rechtsprechung abschließend klären muss, wie mit der fehlenden botanischen Positivliste konkret umzugehen ist. Dabei dürfte auch die Frage eine Rolle spielen, ob und wie traditionelle Verwendungsnachweise im Sinne der Health-Claims-Verordnung berücksichtigt werden können – etwa unter Berufung auf die sogenannte On-Hold-Liste. Diese Liste enthält gesundheitsbezogene Angaben für Botanicals, die bereits 2010 eingereicht wurden und formal noch nicht abschließend bewertet sind. Viele Hersteller beziehen sich in ihrer Werbung auf diese „graue Zone“ – ein juristisch riskantes Manöver, das nach dem EuGH-Urteil nun kaum noch zu halten ist.

Für den Markt der pflanzlichen Nahrungsergänzungsmittel ist das Urteil ein Weckruf: Wer künftig mit gesundheitsbezogenen Aussagen werben will, muss nicht nur wissenschaftliche Evidenz vorlegen, sondern auch einen langen Atem im Zulassungsverfahren mitbringen. Gleichzeitig richtet sich der Blick auf die Europäische Kommission, deren zögerliches Vorgehen in der Bewertung pflanzlicher Claims ein regulatorisches Vakuum erzeugt hat. Ohne eine verbindliche Liste bleibt die Branche rechtlich gelähmt – und das Vertrauen der Verbraucher in eine transparente Kennzeichnung gesundheitlicher Wirkversprechen weiter untergraben.

Die Signalwirkung des Urteils reicht über Botanicals hinaus. Es erinnert alle Marktteilnehmer daran, dass gesundheitsbezogene Werbung im Lebensmittelbereich keine Spielwiese für suggestive Formulierungen ist, sondern ein scharf reguliertes Feld mit klaren rechtlichen Anforderungen. Der Ausgang des Verfahrens beim BGH wird dabei als Präzedenzfall für ähnliche Werbestrategien im NEM-Sektor gelten – und könnte eine Welle von Abmahnungen und Marktbereinigungen nach sich ziehen. In jedem Fall ist die Botschaft unmissverständlich: Ohne Liste, keine Claim – auch nicht bei Pflanzen.

 

Pharmazeutische Mitbetreuung stärkt Therapieadhärenz und Patientensicherheit bei CED

Pilotprojekt des UKR zeigt: Stationsapotheker verbessern Vertrauen, erkennen Risiken und sichern Wirksamkeit komplexer Medikationen

Ein Pilotprojekt am Universitätsklinikum Regensburg (UKR) hat eindrucksvoll belegt, welchen entscheidenden Beitrag Stationsapotheker zur Betreuung von Patientinnen und Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) leisten können. Im interprofessionellen Verbund mit der Klinik für Innere Medizin I entwickelten Krankenhausapotheker eine standardisierte pharmazeutische Mitbetreuung, die nicht nur bestehende Medikationsprobleme identifizierte, sondern auch das Sicherheitsgefühl und die Therapieakzeptanz der Betroffenen messbar stärkte. Angesichts der hohen Komplexität moderner CED-Therapien wird das Projekt inzwischen dauerhaft fortgeführt – auch als Reaktion auf die positiven Rückmeldungen der Teilnehmenden und den Innovationspreis 2025 der ADKA.

Morbus Crohn und Colitis ulcerosa gehören zu den häufigsten CED-Formen und betreffen weltweit schätzungsweise acht Millionen Menschen. Trotz moderner Behandlungsmöglichkeiten wie Biologika oder Immunmodulatoren ist ein signifikanter Anteil der Patientinnen und Patienten weiterhin mit Unsicherheiten und belastenden Symptomen konfrontiert. Hinzu kommt: Die moderne CED-Therapie erfordert nicht nur eine präzise Auswahl von Arzneimitteln, sondern auch eine sorgfältige Abklärung möglicher Interaktionen, Nebenwirkungen und Kontraindikationen – eine Aufgabe, der viele Behandlerteams ohne gezielte pharmazeutische Unterstützung kaum gewachsen sind. Der Beratungsbedarf ist entsprechend hoch.

Genau hier setzt das Projekt des UKR an: Mit Hilfe eines strukturierten Fragebogens wurden Patientinnen und Patienten der CED-Spezialsprechstunde systematisch nach ihrem Wissensstand, ihrer Adhärenz, etwaigen Bedenken und dem Wunsch nach zusätzlicher pharmazeutischer Beratung befragt. Parallel analysierten Stationsapotheker die individuelle Medikation anhand vorliegender Pläne auf potenzielle AMTS-Probleme. Die Ergebnisse wurden anschließend mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten besprochen – und in einem gemeinsamen Gespräch mit den Patientinnen und Patienten in den weiteren Behandlungsprozess integriert.

Die Ergebnisse des Pilotprojekts, publiziert in der Fachzeitschrift »Frontiers in Medicine«, sprechen eine deutliche Sprache: Zwar fühlte sich ein Großteil der befragten Personen gut über ihre Krankheit informiert und schätzte die eigene Therapieadhärenz als hoch ein, dennoch traten in vielen Fällen spezifische Ängste zutage – etwa vor einer erhöhten Krebswahrscheinlichkeit durch die Langzeiteinnahme bestimmter Immunmodulatoren oder Unsicherheiten bei Kinderwunsch und Familienplanung. Besonders ausgeprägt waren diese Bedenken bei Personen, die bereits Biologika oder Immunsuppressiva einnahmen.

Zudem offenbarte die systematische Analyse der Medikation teils gravierende Probleme: In zahlreichen Fällen war eine Medikationsanpassung geboten – sei es, weil ein Arzneimittel ohne klare Indikation verordnet war, sei es, weil eine notwendige Therapiekomponente bisher fehlte. Auch Dosisanpassungen und der Hinweis auf mögliche pharmakokinetische Interaktionen gehörten zu den häufigen pharmazeutischen Interventionen, die in der Folge konkret mit dem ärztlichen Team umgesetzt wurden.

Für die Patientinnen und Patienten war die pharmazeutische Mitbetreuung mehr als nur ein formaler Zusatztermin: Viele von ihnen berichteten im Anschluss, dass sich ihre Sorgen zur Therapie erheblich reduziert hätten. Sie fühlten sich deutlich besser informiert, sicherer im Umgang mit ihrer Erkrankung und schätzten die Möglichkeit, mit speziell geschultem pharmazeutischem Personal über ihre individuellen Fragestellungen zu sprechen. Auch das Vertrauen in die Therapie wurde spürbar gestärkt, was sich wiederum positiv auf die Therapietreue auswirkte.

Der Erfolg des Pilotprojekts hat zur Folge, dass das Modell der pharmazeutischen Mitbetreuung am Universitätsklinikum Regensburg inzwischen in eine reguläre Struktur überführt wurde. Die enge Kooperation zwischen Stationsapothekerinnen und -apothekern, ärztlichem Personal und Patientinnen und Patienten soll nicht nur im Rahmen der CED-Behandlung, sondern perspektivisch auch in anderen Indikationsbereichen zum festen Bestandteil der stationären Versorgung werden.

Die Auszeichnung mit dem ADKA-Innovationspreis 2025 unterstreicht die Relevanz dieses Ansatzes und könnte eine Blaupause für weitere Einrichtungen sein. Denn je komplexer Therapien werden, desto drängender ist die Notwendigkeit einer professionellen pharmazeutischen Mitverantwortung – nicht als Konkurrenz zur ärztlichen Therapie, sondern als entscheidender Beitrag zur gemeinsamen Versorgung chronisch Erkrankter.

 

Medizinische Resilienz, nationale Sicherheit, föderale Pflichtversäumnisse

Wie CSU-Politiker Holetschek und Ministerin Gerlach Kliniken zur Sicherheitsinfrastruktur erklären – und den Bund zum Handeln drängen

Die medizinische Versorgung soll nach dem Willen führender CSU-Politiker künftig nicht mehr nur als soziale Daseinsvorsorge gelten, sondern als strategischer Pfeiler nationaler Sicherheit. Der CSU-Fraktionsvorsitzende im Bayerischen Landtag, Klaus Holetschek, plädiert angesichts internationaler Eskalationen und struktureller Bedrohungsszenarien für einen Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen. Der Fortbestand von Krankenhäusern – insbesondere im ländlichen Raum – dürfe nicht länger ausschließlich unter dem Vorzeichen betriebswirtschaftlicher Effizienz debattiert werden, sondern müsse auch sicherheitspolitisch gedacht werden. Seine Forderung: Kliniken gehören zu den kritischen Infrastrukturen – und sollten entsprechend gesetzlich, finanziell und baulich abgesichert werden.

In München erklärte Holetschek, dass die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten die Dringlichkeit verdeutlichten: „Die Eskalation zwischen Israel und dem Iran zeigt, wie fragil internationale Sicherheitsarchitekturen sind – und wie schnell auch unsere Zivilgesellschaft betroffen sein kann.“ Für den CSU-Politiker steht fest: Deutschland brauche im Ernstfall betriebsfähige Notaufnahmen, funktionierende OP-Säle, intakte Labore und eine ausfallsichere Intensivmedizin – auch jenseits der üblichen Versorgungslasten. Ohne funktionstüchtige Akutstrukturen drohe der „Systemkollaps“ im Gesundheitswesen. Gerade deshalb fordert er klare gesetzliche Resilienzstandards sowie gezielte Investitionen in bauliche Ertüchtigung und technische Notfallmechanismen.

Ein Gedanke, den auch Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) aufgreift. Sie hat bereits einen »Expertinnen- und Expertenrat Gesundheitssicherheit« ins Leben gerufen, der künftig viermal jährlich tagen soll. Ziel sei es, die Lagebeurteilung im Gesundheitssektor enger mit sicherheitsrelevanten Szenarien zu verknüpfen – von Pandemien über Cyberangriffe bis hin zu militärischen Konflikten. Gerlach fordert eine systematische Zusammenführung von Bundeswehr, Hilfsorganisationen, Arzneimittelversorgung, ambulanter und stationärer Versorgung unter einem sicherheitspolitischen Dach. Die Botschaft: Die Zeit der sektoralen Trennung ist vorbei – auch Praxen, Apotheken, Pharmaindustrie und Pflegekräfte seien aufgerufen, ihren Beitrag zur Systemresilienz zu leisten.

Im Zentrum steht dabei der Begriff der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Es gehe nicht um Panikmache, sondern um präventive Strukturpolitik, die Deutschland in Krisenfällen reaktions- und versorgungsfähig hält. Besonders bemerkenswert: Der CSU-Vorstoß zielt explizit auf die Bundesregierung. Holetschek schlägt vor, das für die Bundeswehr reservierte Sondervermögen auch für zivile medizinische Infrastrukturmaßnahmen einzusetzen. Der Gedanke dahinter: Was im Verteidigungsfall zählt, ist nicht nur militärische, sondern vor allem gesundheitliche Funktionsfähigkeit. „Wir dürfen Kliniken nicht länger als Sparobjekte betrachten“, so Holetschek, „sondern als Sicherheitsgaranten.“

Die Ministerin verweist in diesem Zusammenhang auf bestehende Initiativen zur Ausbildung von Pflegeunterstützungskräften durch Hilfsorganisationen – eine Maßnahme, die im Krisenfall schnell verfügbar sein soll, aber nur mit ausreichender Finanzierung durch den Bund umgesetzt werden könne. Der Ruf nach Berlin ist damit unmissverständlich: Sicherheitspolitische Dimensionen im Gesundheitswesen erfordern auch sicherheitspolitische Finanzentscheidungen. Es reiche nicht aus, Appelle zu formulieren, während Kliniken im ländlichen Raum vor der Insolvenz stehen und Personalstrukturen bröckeln.

In Bayern versteht man den Vorstoß auch als Antwort auf die bundespolitische Reformdebatte rund um die Krankenhausplanung und Finanzierung. Der Bund setze mit seinen Plänen zu stark auf Konzentration und Zentralisierung – ein Ansatz, der in sicherheitspolitischer Hinsicht nach Ansicht der CSU riskant sei. Gerade dezentrale Klinikstandorte seien im Ernstfall unverzichtbar, um flächendeckende Versorgung, Triagefähigkeit und regionale Robustheit zu gewährleisten. Der Rückbau kleiner Häuser könne sich als Sicherheitslücke entpuppen.

Im CSU-internen Strategiepapier wird zudem auf internationale Beispiele verwiesen. Staaten wie Israel oder Finnland würden bereits seit Jahren gezielt in die Verteidigungsfähigkeit ihrer Gesundheitssysteme investieren, etwa durch unterirdische Versorgungsstationen, doppelte Energieversorgung, Notfallreserven für Medikamente und flexible Personalreserven. Deutschland dagegen hinke sowohl im zivilen als auch im militärmedizinischen Bereich hinterher – und verliere wertvolle Zeit durch föderale Abstimmungshürden.

Die CSU will deshalb nicht nur auf Bayernebene handeln, sondern die Bundestagsfraktion in die Pflicht nehmen, einen verbindlichen Infrastrukturresilienzplan im Gesundheitssystem auf Bundesebene voranzutreiben. Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach sieht sich damit konfrontiert, das Thema Gesundheitssicherheit aus der epidemiologischen Nische zu holen – und in den sicherheitspolitischen Mainstream zu führen. Dass Gerlach dabei explizit von »Schnittstellen zwischen Versorgung, Sicherheit und gesellschaftlicher Stabilität« spricht, ist kein Zufall. Es geht um einen Begriff von Gesundheitsvorsorge, der über Infektionsschutz hinausgeht und den Blick auf geopolitische, infrastrukturelle und technologische Verwundbarkeiten lenkt.

Denn was passiert, wenn der Strom ausfällt? Wenn Lieferketten für Medizinprodukte zusammenbrechen? Wenn digitale Systeme in Kliniken gehackt oder lahmgelegt werden? Wenn im Kriegs- oder Katastrophenfall medizinische Evakuierungen nötig werden, die keine Klinik mehr aufnehmen kann? Diese Fragen, bislang meist dem Katastrophenschutz oder dem Zivilschutz zugeordnet, rücken durch Holetschek und Gerlach in die Mitte der Versorgungspolitik.

Der politische Appell zielt auf ein neues Narrativ: Kliniken sind keine reinen Behandlungsorte, sondern systemrelevante Stabilisatoren in Krisenzeiten. Die CSU nutzt das Momentum globaler Unsicherheit, um sich in der gesundheitspolitischen Debatte als sicherheitsorientierte Gestalterin zu positionieren – mit einer klaren Erwartung an Berlin: Das Gesundheitssystem der Zukunft muss nicht nur effizient, sondern auch krisentauglich sein. Und das bedeutet: neue Standards, neue Zuständigkeiten, neue Prioritäten. Die Diskussion ist eröffnet – mit deutlichem bayerischen Akzent.

 

Koloskopie vorverlegen, Risiko erkennen, Versorgung neu denken

US-Daten befeuern Debatte um Altersgrenze bei Darmkrebs-Screening – Deutsche Regelung hinkt Entwicklung und Epidemiologie hinterher

In Deutschland beginnt die gesetzlich empfohlene Früherkennung von Darmkrebs bislang erst mit dem 50. Lebensjahr – bei Männern durch Koloskopie, bei Frauen seit kurzem ebenfalls ab 50. Doch die epidemiologische Realität hat sich längst verschoben. Jüngere Erwachsene zeigen zunehmend ein erhöhtes Risiko für kolorektale Neoplasien, ohne klassische Risikofaktoren wie familiäre Belastung oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen. Eine große US-amerikanische Auswertung liefert nun stichhaltige Hinweise darauf, dass ein Screeningbeginn bereits ab 45 Jahren medizinisch sinnvoll und gesundheitspolitisch geboten sein könnte – und damit auch für die deutsche Diskussion neue Impulse setzt.

Hintergrund der Debatte ist eine Entscheidung der US Preventive Services Task Force (USPSTF) aus dem Jahr 2021, die Altersuntergrenze für das koloskopische Darmkrebs-Screening von 50 auf 45 Jahre abzusenken. Als Reaktion auf einen deutlichen Anstieg von Darmkrebserkrankungen bei jüngeren Erwachsenen wurde dieser Schritt bereits damals als präventivstrategische Korrektur begriffen. Jetzt liefert eine neue Untersuchung aus Kalifornien erstmals belastbare Daten zur tatsächlichen Detektionsrate in der erweiterten Altersgruppe – mit bemerkenswerten Ergebnissen. Die in „JAMA Network“ veröffentlichte Analyse basiert auf 12.031 Versicherten der Kaiser Permanente Northern California, die zwischen 2021 und 2024 erstmals eine Vorsorgekoloskopie durchliefen. Zwei Alterskohorten wurden verglichen: 4380 Personen zwischen 45 und 49 Jahren und 7651 Personen im Alter von 50 bis 54 Jahren – alle ohne Hochrisikofaktoren.

Ziel war es, die Rate der detektierten kolorektalen Karzinome und relevanter Vorstufen – insbesondere Adenome – zu erfassen und die beiden Gruppen hinsichtlich der diagnostischen Ausbeute zu vergleichen. Das Ergebnis überrascht: Die Unterschiede fielen minimal aus. So wurde ein Kolorektalkarzinom in beiden Altersgruppen bei exakt 0,1 Prozent der Teilnehmenden entdeckt – ein identischer Wert. Auch bei fortgeschrittenen Adenomen oder Neoplasien insgesamt zeigten sich keine signifikanten Altersunterschiede. Lediglich beim Parameter „any adenoma“, also dem Nachweis irgendeines Adenoms unabhängig von Malignitätspotenzial oder Größe, lag die Nachweisrate bei den Jüngeren mit 35,4 Prozent etwas unter der der Älteren (40,8 Prozent). Dieser Unterschied war statistisch signifikant – jedoch nicht in einem klinisch kritischen Ausmaß, das eine niedrigere Effektivität der Früherkennung in der jüngeren Gruppe rechtfertigen würde.

Die Autoren um Dr. Jeffrey K. Lee vom Kaiser Permanente San Francisco Medical Center sehen in dieser Altersgruppenanalyse einen klaren Beleg dafür, dass das Screening ab 45 Jahren epidemiologisch gerechtfertigt ist und potenziell relevante Pathologien in einer vergleichbaren Häufigkeit aufdeckt wie bei älteren Patientinnen und Patienten. Die Ergebnisse geben nicht nur der US-Strategie recht, sondern stellen auch die deutsche Praxis erneut infrage. Denn obwohl jüngst eine Absenkung der Altersgrenze für Frauen auf 50 Jahre erfolgte, bleibt der Zugang zur präventiven Koloskopie für Unter-50-Jährige in Deutschland nach wie vor reglementiert – ungeachtet wachsender wissenschaftlicher Evidenz und epidemiologischer Warnsignale.

Dass die Darmkrebsvorsorge auch hierzulande ein dynamisches und umstrittenes Feld ist, zeigen Debatten in Fachgremien und politischen Ausschüssen seit Jahren. Zwar existiert mit dem immunologischen Stuhltest (iFOBT) eine niedrigschwellige Alternative zur Koloskopie, die ab dem 50. Lebensjahr alle zwei Jahre angeboten wird – doch auch diese Strategie adressiert nicht die kritische Altersgruppe zwischen 45 und 49 Jahren, in der nun vermehrt Pathologien auftreten. Experten fordern daher eine grundlegende Neubewertung der nationalen Screeningstrategie, bei der nicht allein Budgetgrenzen oder Organisationslogiken, sondern vorrangig epidemiologische Trends und Versorgungseffizienz den Ausschlag geben sollten.

Gerade weil die Koloskopie – trotz ihrer invasiven Natur – als „Goldstandard“ in der Früherkennung gilt und aufgrund ihrer diagnostisch-therapeutischen Doppelfunktion nachweislich Leben retten kann, wächst der Druck auf die Gesundheitspolitik, auch bei jüngeren Versicherten aktiv zu werden. Dass die frühzeitige Erkennung adenomatöser Veränderungen essenziell ist, um das Fortschreiten zu invasiven Karzinomen zu verhindern, steht außer Frage. Die US-Daten liefern nun ein weiteres Mosaiksteinchen in einem bereits deutlich gezeichneten Bild: Darmkrebs ist längst keine reine Alterskrankheit mehr – und die 50er-Grenze möglicherweise ein historisches Relikt.

Das Argument der Ressourcenverteilung wird dabei immer wieder ins Feld geführt: Früheres Screening bedeute höhere Kosten, mehr Aufwand, längere Wartezeiten. Doch wie realistisch sind diese Einwände angesichts der Tatsache, dass der Nutzen eines präventiven Eingriffs wie der Koloskopie weit über dem Risiko einer verspäteten Diagnose liegt – sowohl gesundheitlich als auch volkswirtschaftlich? Schließlich erzeugt jede vermiedene metastasierte Erkrankung massive Kosteneinsparungen im Versorgungssystem und bewahrt Lebensqualität und Erwerbsfähigkeit der Betroffenen. Hinzu kommt: Die steigende Zahl junger Darmkrebspatienten mit fortgeschrittenem Befund unterläuft die präventivmedizinische Logik der Altersgrenze fundamental.

Eine politische Entscheidung zugunsten einer gesenkten Altersgrenze müsste auf Grundlage dieser Daten also nicht nur medizinisch gerechtfertigt, sondern auch ethisch geboten erscheinen. Denn Prävention darf kein exklusives Angebot für Menschen ab einem bestimmten Geburtsjahrgang sein, sondern muss sich an den Risikokurven realer Erkrankungsverläufe orientieren – auch, wenn diese unbequeme Entscheidungen im Gesundheitssystem erfordern. Die Zahlen aus Kalifornien legen nahe: Die 45 ist das neue 50 – zumindest beim Thema Darmkrebs-Screening.

 

Früherkennung rettet Leben, CT bringt Vorsprung, Risiko bleibt überschaubar

Warum das Lungenkrebs-Screening für starke Raucher kostenlos wird, welche Hürden noch bestehen und was Betroffene jetzt wissen müssen

Ein lange diskutiertes und wissenschaftlich gut abgesichertes Vorsorgeinstrument soll bald Teil der Regelversorgung werden: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat beschlossen, dass starke Raucher künftig einmal jährlich Anspruch auf eine kostenfreie Niedrigdosis-CT zur Früherkennung von Lungenkrebs haben sollen. Das neue Screeningprogramm richtet sich an Personen zwischen 50 und 75 Jahren, die mindestens 25 Jahre lang regelmäßig Zigaretten geraucht haben. Auch ehemalige Raucherinnen und Raucher können teilnehmen – sofern sie nicht länger als zehn Jahre abstinent sind. Die Zielgruppe umfasst schätzungsweise zwei Millionen Menschen in Deutschland.

Die Maßnahme soll helfen, Lungenkrebs deutlich früher zu erkennen – bevor Symptome wie Bluthusten oder Gewichtsverlust auftreten. Studien zeigen, dass dadurch etwa 20 Prozent der Krebstodesfälle in dieser Hochrisikogruppe verhindert werden könnten. Konkret bedeutet das: Bis zu 1000 Menschen pro Jahr könnten gerettet werden, wenn alle Anspruchsberechtigten das Angebot wahrnehmen würden. Lungenkrebs gilt als besonders tödlich, weil er meist erst in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wird. Ohne Früherkennung sterben laut Experten innerhalb von fünf Jahren rund 80 Prozent der Betroffenen.

Ein zentrales Element des neuen Screenings ist die Verwendung der sogenannten Niedrigdosis-CT. Diese Variante der Computertomografie arbeitet mit deutlich reduzierter Strahlung im Vergleich zu konventionellen CT-Untersuchungen. Dennoch bleibt die Belastung nicht ohne Risiko. Das Bundesamt für Strahlenschutz rechnet langfristig mit etwa drei zusätzlichen Krebsfällen pro 1000 untersuchten Frauen beziehungsweise einem Fall bei Männern – gemessen an einem Zeitraum von 25 Jahren. Vor diesem Hintergrund betonen Experten die Notwendigkeit eines stringenten Qualitätsmanagements. Ohne engmaschige Evaluation, definierte Standards und ausreichend geschultes Personal könnten Nutzen und Risiko leicht aus dem Gleichgewicht geraten.

Neben der Strahlenbelastung besteht ein zweiter Unsicherheitsfaktor: falsch-positive Ergebnisse. Werden in der CT-Untersuchung auffällige Strukturen erkannt, die sich später als harmlos herausstellen, kann das zu unnötiger Diagnostik führen – etwa in Form invasiver Biopsien. Das bedeutet zusätzliche Belastung und potenziell auch körperliche Risiken für die Betroffenen. Dennoch überwiegt laut G-BA und Bundesamt für Strahlenschutz der Nutzen bei der definierten Zielgruppe eindeutig. Voraussetzung sei jedoch, dass alle organisatorischen und medizinischen Standards tatsächlich umgesetzt und kontinuierlich überprüft würden.

Ein konkreter Starttermin für das Kassenangebot steht noch nicht fest. Nach dem G-BA-Beschluss folgt nun ein mehrstufiges Verfahren: Zunächst muss das Bundesgesundheitsministerium Rückmeldung geben. Falls keine Einwände vorliegen, haben Krankenkassen und Ärzteschaft sechs Monate Zeit, sich auf eine Vergütung zu einigen. Erst danach können Vertragsärztinnen und -ärzte die Früherkennungs-CT regulär mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen. Die Einführung wird daher voraussichtlich bis April 2026 dauern.

Eine private Vorabnutzung ist indes bereits möglich – jedoch nur auf eigene Kosten. Schon seit Juli 2024 ist die rechtliche Grundlage durch eine Verordnung des Bundesumweltministeriums in Kraft. Wer also unter die genannten Kriterien fällt und sich nicht bis 2026 gedulden möchte, kann die Untersuchung bei entsprechender ärztlicher Beratung bereits durchführen lassen – vorausgesetzt, sie wird als medizinisch gerechtfertigt angesehen.

Hinter dem G-BA-Beschluss steht eine klare gesundheitspolitische Logik: Die bisherigen Regelungen, nach denen eine CT nur bei bestehenden Symptomen übernommen wurde, ließen keinen Spielraum für präventive Maßnahmen. Die neue Richtlinie schließt diese Lücke – zumindest für eine definierte Hochrisikogruppe. Gleichzeitig stellt sie die Weichen für eine systematischere Lungenkrebsfrüherkennung in Deutschland. Mit jährlich rund 56.500 Neuerkrankungen und mehr als 45.000 Todesfällen zählt Lungenkrebs zu den gefährlichsten Tumorerkrankungen. Bei Männern ist es die häufigste, bei Frauen die zweithäufigste krebsbedingte Todesursache.

Die epidemiologischen Zusammenhänge sind eindeutig: Rund 90 Prozent der Lungenkrebserkrankungen bei Männern und etwa 60 Prozent bei Frauen lassen sich direkt auf das Rauchen zurückführen. Prävention allein greift hier zu kurz – viele Betroffene haben eine jahrzehntelange Nikotinbiografie hinter sich. Genau dort setzt das neue Screeningprogramm an: Es richtet sich nicht an Gelegenheitsraucher oder Konsumenten alternativer Nikotinprodukte wie E-Zigaretten oder Tabakerhitzer, sondern ausschließlich an Langzeit-Zigarettenraucher mit hohem Risiko.

Die Definition der Packungsjahre – ein in der Lungenmedizin etabliertes Maß – liefert die entscheidende Zugangsvoraussetzung: Multipliziert man die Zahl der täglich konsumierten Packungen mit der Dauer des Konsums in Jahren, ergeben sich Werte, die eine individuelle Risikobewertung erlauben. Mindestens 15 solcher Packungsjahre sind Voraussetzung für das neue Screeningangebot. Damit soll eine klare medizinische Zielgruppe abgegrenzt und gleichzeitig Missbrauch oder Überdiagnostik vermieden werden.

Insgesamt sendet die Entscheidung des G-BA ein deutliches Signal: Früherkennung kann Leben retten – vorausgesetzt, sie wird mit Augenmaß, Präzision und einem klaren Risikoverständnis umgesetzt. Gerade bei Erkrankungen mit hoher Sterblichkeit wie dem Lungenkarzinom wird deutlich, dass der Zugang zur Diagnostik kein Luxus sein darf, sondern Teil einer solidarischen, evidenzbasierten Gesundheitsversorgung sein muss.

 

Urlaub mit Nebenwirkung: Warum Reisedurchfall mehr als nur ein vorübergehendes Übel ist

Wie Infektionen im Ausland zum Reizdarmsyndrom führen können, was Multiresistenzen mit Fernreisen zu tun haben und welche Prophylaxe sinnvoll ist

Reisedurchfall gehört zu den häufigsten gesundheitlichen Problemen bei Auslandsreisen und betrifft statistisch etwa ein Drittel aller Reisenden. In einer aktuellen Metaanalyse, die auf Daten bis 2017 beruht, zeigen sich Erkrankungsraten von 20 bis 56 Prozent – wobei acht Prozent eine moderate und drei Prozent eine schwere Verlaufsform entwickeln. Auch wenn neuere Erhebungen fehlen, bleibt Reisediarrhö ein reales Risiko – nicht nur wegen des akuten Unwohlseins, sondern auch wegen möglicher Langzeitfolgen wie dem Reizdarmsyndrom, wie Professor Dr. Robert Steffen vom Centrum für Reisemedizin (CRM) beim Forum für Reisen und Gesundheit betonte. Besonders problematisch: Eine Infektion kann über eine immunologische Aktivierung eine anhaltende Veränderung des Darmnervensystems hervorrufen, die bei etwa 12 Prozent der Betroffenen ein Reizdarmsyndrom auslösen kann – das bei rund 80 Prozent über mindestens ein Jahr persistiert. Selbst wer während der Reise beschwerdefrei bleibt, ist nicht gänzlich geschützt: In der Vergleichsgruppe entwickelten immerhin 3,5 Prozent ohne erkennbare Magen-Darm-Infektion im Nachgang entsprechende Symptome.

Als Risikogebiete gelten insbesondere Indien, Südostasien, Südamerika und Subsahara-Afrika. Bei der Ursachensuche fällt auf, dass neben offensichtlichen Faktoren wie Reiseniveau und Hygiene auch individuelle Merkmale eine Rolle spielen: Rucksacktouristen haben ein erhöhtes Risiko gegenüber Luxustouristen, Menschen mit allergischem Asthma, Protonenpumpeninhibitoren-Therapie oder psychiatrischen Medikamenten sind ebenfalls besonders gefährdet. Auch ein erhöhter Body-Mass-Index erhöht die Anfälligkeit, während Personen über 35 Jahre, Besucher ihrer Herkunftsfamilie im Ausland oder Personen aus einkommensschwächeren Ländern tendenziell ein geringeres Risiko tragen.

Neben der akuten Symptomatik rücken zunehmend multiresistente Erreger in den Fokus, insbesondere Extended Spectrum Beta-Lactamase-produzierende Enterobacteriaceae (ESBL-PE). Der Erwerb solcher Keime steigt mit der Reisedauer und wird durch Faktoren wie Street Food, Massenevents, Tierkontakte, Antibiotikaeinnahme oder Krankenhausaufenthalte weiter begünstigt. Nach Indienreisen wurden ESBL-PE bei bis zu 93 Prozent der Rückkehrer nachgewiesen. Für Frauen kann dies zusätzlich problematisch sein, da häufige Harnwegsinfektionen eine Folge sein können. Ein besonders problematischer Parasit ist Giardia lamblia – nicht nur aufgrund seiner Häufigkeit in bestimmten Regionen, sondern vor allem wegen seiner stark reizdarmsyndromfördernden Wirkung. Infektionen mit Protozoen wie Giardia bergen demnach ein höheres Risiko für Folgeerkrankungen als bakterielle oder virale Erreger.

Das Erregerspektrum unterscheidet sich je nach Region: Während enterotoxische Escherichia coli (ETEC) weltweit dominieren und 67 bis 82 Prozent der Fälle ausmachen, kommen zunehmend auch enteropathogene und enteroaggregative Stämme vor. Shigellen, Campylobacter und Noroviren spielen vor allem in Südamerika und Südostasien eine Rolle. Giardia lamblia ist insbesondere in Südasien und Afrika südlich der Sahara ein häufiger Erreger. In über der Hälfte der Fälle liegt eine Mischinfektion vor, was die Therapie zusätzlich erschwert. Die Diagnostik erfolgt heute in der Regel nicht mehr mikroskopisch, sondern über PCR-basierte Verfahren – allerdings meist nur in komplizierten oder schweren Verläufen, wie Steffen betont.

Zur Prävention bleibt die Lebensmittel- und Trinkwasserhygiene das wichtigste Mittel: Nur abgekochtes, gefiltertes oder original verschlossenes Wasser sollte verwendet werden – auch zum Zähneputzen. Eiswürfel sind ebenso zu meiden wie rohes Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte, ungeschälte Früchte oder Salate. Die einfache Regel „cook it, peel it or leave it“ bleibt damit so aktuell wie eh und je. Unverzichtbar ist auch das konsequente Händewaschen mit Seife – eine der wirksamsten Maßnahmen gegen enterale Infektionen.

Ein ergänzender Schutz kann durch bestimmte probiotische Stämme erreicht werden. Zwar ist die Evidenzlage eingeschränkt, dennoch zeigt eine Metaanalyse eine gewisse Wirksamkeit für Lactobacillus acidophilus, L. rhamnosus, L. fermentum sowie für Saccharomyces boulardii und S. cerevisiae. Impfstoffe gegen Erreger wie Shigellen, ETEC oder Noroviren befinden sich in Entwicklung, zeigen bislang aber nur mäßige Wirkung. Der Impfstoffkandidat ETVAX konnte die erhoffte 70-prozentige Schutzwirkung nicht erreichen, ebenso blieb der Norovirus-Impfstoff VXA-G1.1-NN in seiner Wirksamkeit gegen gastrointestinale Symptome unter den Erwartungen. Eine baldige Zulassung ist daher nicht in Sicht.

Ein interessantes Nebenergebnis ist der protektive Effekt der Doxycyclin-Prophylaxe gegen Malaria: Sie reduzierte auch die Inzidenz von Reisedurchfall signifikant. Dennoch rät Steffen von einer generellen Anwendung ab – wegen möglicher Resistenzentwicklung und negativer Effekte auf das Darmmikrobiom. Bei tatsächlicher Erkrankung stehen vor allem Rehydratation und symptomatische Therapie im Vordergrund. Orale Rehydratationslösungen (ORS) aus der Apotheke sind optimal, notfalls können auch selbst hergestellte Lösungen aus Zucker und Salz verwendet werden. Leichte Diäten und viel Flüssigkeit reichen oft aus – Loperamid kann kurzfristig helfen, sollte aber nicht längerfristig eingesetzt werden. Bei schwereren Verläufen kann eine Einzeldosis eines Antibiotikums wie Azithromycin, Rifaximin oder Levofloxacin – kombiniert mit Loperamid – sinnvoll sein. Diese Strategie reduziert die Belastung des Mikrobioms und minimiert das Risiko für Resistenzentwicklung.

Länger andauernder oder blutiger Durchfall, hohes Fieber oder schwere Symptome erfordern ärztliche Behandlung. Der Reisedurchfall ist damit nicht nur ein logistisches oder unangenehmes Urlaubsereignis, sondern kann eine langfristige Herausforderung für das Immunsystem und die Lebensqualität darstellen. Umso wichtiger sind Vorsorge, Aufklärung und individuell angepasste Schutzmaßnahmen – sowohl medizinisch als auch hygienisch.

 

Gezielter Eingriff gegen mutiertes TTR, monatliche Gabe, Augen auf bei Vitamin A

Eplontersen erweitert das Therapiearsenal bei hereditärer ATTR-Polyneuropathie und zielt auf mRNA-Abbau in Hepatozyten

Ein neues Antisense-Oligonukleotid erweitert seit Mai 2025 das Behandlungsspektrum für eine der seltensten progredienten Erkrankungen des Nervensystems: die hereditäre Transthyretin-assoziierte Amyloidose mit Polyneuropathie (hATTR-PN). Der neu zugelassene Wirkstoff Eplontersen, vermarktet unter dem Namen Wainzua®, ist eine zielgerichtete molekulare Therapie, die auf die Ursache der Erkrankung einwirkt – die krankheitsauslösende Fehlfaltung von Transthyretin (TTR). Diese Proteinfehlfaltung führt zur Ablagerung amyloider Fibrillen in Organen und Geweben, was je nach Form zu kardiologischen oder neurologischen Funktionsstörungen führen kann. Bei hATTR-PN steht die schleichende Schädigung peripherer Nerven im Vordergrund. Weltweit sind davon rund 40.000 Patienten betroffen.

Wie seine Vorgänger Inotersen, Patisiran und Vutrisiran richtet sich Eplontersen gegen das genetische Fundament der Erkrankung. Es handelt sich um ein Antisense-Oligonukleotid der neuen Generation, das mit einem N-Acetylgalactosamin(GalNAc)-Konjugat versehen ist. Dieses Konjugat bindet selektiv an Hepatozyten, die Hauptproduzenten von TTR. Der Wirkstoff dockt an die TTR-mRNA an, die daraufhin enzymatisch abgebaut wird – mit dem Ziel, die pathologische Proteinproduktion effektiv zu unterbinden. Anders als bei Patisiran und Vutrisiran, die auf RNA-Interferenz basieren, nutzt Eplontersen den klassischen ASO-Mechanismus mit zellulärer RNase-H-Rekrutierung.

Die Zulassung stützt sich auf Ergebnisse der Phase-III-Studie NeuroTTRansform, in der 144 Patienten mit hATTR-PN der Stadien 1 und 2 über einen Zeitraum von 65 Wochen alle vier Wochen 45 mg Eplontersen subkutan erhielten. Als Vergleichskohorte dienten Placebo-Daten aus der früheren Inotersen-Studie (NEURO-TTR), deren Einschlusskriterien identisch waren. Die Analyse konzentrierte sich auf zwei koprimäre Endpunkte: die Veränderung der Serum-TTR-Spiegel sowie den modifizierten neuropathischen Beeinträchtigungsscore (mNIS+7). Der TTR-Spiegel wurde unter Eplontersen im Durchschnitt um 80 Prozent gesenkt – im Vergleich zu nur 10 Prozent im Placeboarm. Parallel zeigte sich ein deutlich geringerer Anstieg des mNIS+7-Scores, was auf eine signifikant verlangsamte Progression der neurologischen Symptome hinweist.

Die klinische Anwendung ist auf monatliche subkutane Injektionen beschränkt. Patientinnen und Patienten – oder deren Betreuungspersonen – können die Injektion nach Einweisung eigenständig durchführen. Dabei sollte auf geeignete Injektionsstellen geachtet werden, insbesondere sollte der Bereich um den Bauchnabel sowie verletzte oder verhärtete Hautareale vermieden werden. Wainzua muss durchgängig gekühlt aufbewahrt und vor der Applikation mindestens 30 Minuten auf Raumtemperatur gebracht werden – aktive Erwärmung ist nicht gestattet.

Eine Besonderheit der Therapie ist der Umgang mit Vitamin-A-Mangel, der als sehr häufige Nebenwirkung auftritt. In der klinischen Praxis ist eine tägliche Supplementation mit 2500 bis 3000 I. E. Vitamin A vorgesehen. Da ein niedriger Vitamin-A-Status insbesondere für die Sehleistung relevant ist, sind ophthalmologische Voruntersuchungen vor Therapiebeginn obligat. Zusätzlich ist bei Frauen im gebärfähigen Alter besondere Vorsicht geboten: Wegen unzureichender Daten zur fetalen Sicherheit unter Vitamin-A-Supplementation und Eplontersen selbst muss vor Beginn der Behandlung eine Schwangerschaft ausgeschlossen und eine wirksame Verhütung sichergestellt werden. Auch in der Stillzeit gilt eine strikte Nutzen-Risiko-Abwägung – mit der Option, das Stillen zu pausieren oder die Behandlung zurückzustellen.

Die Indikation umfasst derzeit die Behandlung von erwachsenen Patientinnen und Patienten mit hATTR-PN in Stadium 1 oder 2. Im Fall einer fortschreitenden Erkrankung (Stadium 3) kann Eplontersen laut Fachinformation weiter eingesetzt werden, sofern der therapeutische Nutzen klar überwiegt. Damit bietet der neue Wirkstoff eine relevante Option für eine bislang schwer kontrollierbare Indikation – mit einem molekularbiologischen Ansatz, der zielgerichtet, effizient und in seiner Applikation relativ einfach umzusetzen ist. Die pharmazeutische Innovation liegt dabei nicht nur in der verbesserten Wirksamkeit, sondern auch in der vereinfachten Anwendung und der verlängerten Dosierungsfrequenz.

In der therapeutischen Landschaft der Amyloidosetherapie positioniert sich Eplontersen als Brückentechnologie zwischen klassischen ASOs und neueren RNA-basierten Interferenzen – und ergänzt damit das Portfolio um eine monatlich applizierbare, zielgerichtete und zugleich kontrollierbare Option. Auch unter pharmakoökonomischen Aspekten könnte Eplontersen mittelfristig Bedeutung gewinnen, sofern es gelingt, die neurologische Progression und damit Folgekomplikationen längerfristig zu verzögern. Entscheidungen zur Kostenerstattung dürften hier eine zentrale Rolle spielen, ebenso wie Registerdaten zur Langzeitsicherheit und Wirkung im klinischen Alltag. Für Betroffene mit einer seltenen, potenziell lebensverkürzenden Erkrankung ist die neue Therapie jedenfalls ein Hoffnungsträger.

Von Engin Günder, Fachjournalist

 

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